33. Sonntag im Jahreskreis – C

gehalten im Hohen Dom zu  Salzburg am 13.11.1983

 

Das Kirchenjahr geht seinem Ende zu. Da erinnert uns das Evangelium an den letzten Tag der Weltgeschichte. Was geschieht an jenem Tag? Wiederkunft Christi zum Gericht. Zum christlichen Glauben gehört von Anfang an dieses Wissen dazu: "...Von dort wird Er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten!”

Und da stellt die menschliche Neugier gleich Fragen: Wann wird das sein? Wie wird das sein? Ist denn das Wann und Wie so wichtig? Wichtig ist nur, dass dies der Schlussakt im Großen Welttheater sein wird, oder - wie man auch gesagt hat - das Ende im großen Maskenball: wenn zuletzt die Masken fallen! Die Masken der Verstellung und der Heuchelei werden fallen und jeder wird so dastehen, wie er wirklich ist: ohne Schein, ohne "make up", ohne Maske, durchleuchtet von den Strahlen der göttlichen Allwissenheit und Gerechtigkeit.

Und wenn im Ev dieses vorletzten Sonntags im Kirchenjahr in den endzeitlichen Weissagungen Christi an den Propheten Daniel erinnert wird, dann dürfen wir uns auch an jene Szene im Leben dieses Propheten erinnern, die so treffend zum Gedanken an das Gericht, an das persönliche Gericht am Ende des Lebens, und an das Weltgericht am Ende der Zeiten, passt: im 5. Kapitel des Buches Daniel steht es aufgeschrieben:

Im Königspalast zu Babylon hielt König Belsazer für die Großen seines Reiches samt ihren Damen ein Festbankett. Lauter Hochstimmung, Musik, Becherklang, Ausgelassenheit herrschten bei diesem Mahl und doch war es ein eigenartiges Henkermahl. - In vorgerückter Stunde - "die Mitternacht zog näher schon" - hatte Belsazer den gotteslästerlichen Einfall, aus der Schatzkammer des Palastes die dort verwahrten, aus dem Tempel zu Jerusalem geraubten heiligen Gefäße herbeiholen zu lassen, um sich daraus zuzutoasten und zuzuprosten. Und auf dem Höhepunkt der Orgie, forderte Belsazer mit einem "Hoch" auf die falschen Götter den einzig wahren Gott in gotteslästerlicher Weise heraus. Im gleichen Augenblick aber wurde es im Festsaal still wie in einer Leichenhalle. Die Ausgelassenheit, das Lachen, das Lärmen verstummte mit einem Mal. Die Gesichter, eben noch gerötet von Lust und Liebe und Wein, wurden leichenblass, alle Augen starrten wie gebannt an die Wand. Was war denn los? Dort an der weißgetünchten Wand waren ein paar langgestreckte Finger erschienen, die Finger einer schreibenden Hand. Und diese Finger schrieben drei geisterhafte Schriftzüge an die Wand, drei Worte mit neun Buchstaben. Die Finger waren wieder verschwunden. Aber die drei Worte standen da. Und vor ihnen zitterte der König, der sie nicht zu deuten verstand. Er rief sofort seine königlichen Räte, seine Zeichendeuter und Wahrsager. Aber keiner wusste mit den drei Wörtern etwas anzufangen. Daniel allein, der Prophet des wahren Gottes, der die Sendung hatte, in der babylonischen Verbannung den Glauben an den wahren Gott zu künden durch Wort und Beispiel, er verstand die Schrift zu lesen und zu deuten. Er las: "Mene - Tekel - Peres". Und er deutete die Worte: Mene = gezählt, gezählt, o König, hat Gott die Tage deiner Königsherrschaft und ihr den Garaus bereitet! – Tekel = gewogen, gewogen warst du, König, auf der Waage Gottes und zu leicht befunden! – Peres = geteilt, geteilt wird dein Reich! Die drei Wörter an der Wand waren also das Gerichtsurteil, das Todesurteil über Belsazer und sein babylonisches Reich. - Noch in derselben Nacht war es mit der Herrschaft Belsazers zu Ende. Das babylonische Reich wurde zerstört und aufgeteilt. Darius, der Meder, trat die Herrschaft an. Belsazer hatte in letzter Stunde von Gott selbst noch seinen Denkzettel bekommen. Er war aber nicht mehr in sich gegangen.

Fast möchte man sagen: Auch unserer Zeit täte ein solcher Denkzettel recht gut. Man hat ja den zweiten Weltkrieg, sein furchtbares Leid und seine bitteren Folgen längst vergessen. Man schwelgt in Ausgelassenheit und Sex-Besessenheit, in religiöser Lauheit und sittlicher Rohheit und Haltlosigkeit. Dabei ist die Stunde des persönlichen Gerichtes für so viele viel viel näher, als sie meinen, und dabei ist vielleicht auch die Stunde des Weltgerichtes viel viel näher als viele glauben. Wehe uns, wenn im Gericht dieses Urteil über uns gefällt werden muss: Mene-gezählt, tekel-gewogen, peres-geteilt!

Hören wir Gottes Mahnworte für unsere Zeit jetzt und nicht erst, wenn es zu spät ist;

1. Gezählt! Von Gott gezählt sind unsere Lebenstage. Wahrlich, sie sind gezählt und ihre Zahl ist schon ganz genau festgelegt. Jeden Tag geht es einen Schritt näher dem Gericht, dem Tod, dem Grab, der Ewigkeit. Das gilt von den Alten, das gilt von den Jungen. Mit jedem Tag wird die Zahl unserer Lebenstage kleiner und immer näher kommt der letzte Tag, der Tag des Gerichtes, an dem es heißt: Gib Rechenschaft von deiner Verwaltung!

2. Gewogen, von Gott gewogen! Das Menschenleben wird nicht bloß gezählt nach der Zahl seiner Tage, seiner Monate, seiner Jahre, es wird von Gott vor allem gewogen nach Inhalt und Gewicht auf der Waage Gottes! O dass es dann nicht hieße: Gewogen und zu leicht befunden auf der Waage Gottes! Das, was unserem Leben und unseren Werken Gewicht und Wert gibt auf der Waage Gottes, ist dies, dass das Leben gelebt wird in der Liebe Gottes, in der Gnade Gottes und dass die Werke in der guten Meinung, zur größeren Ehre Gottes und aus Liebe und Barmherzigkeit gegen den Bruder in Not verrichtet werden. Alles andere ist in den Augen Gottes letztlich wertlose Spreu und wäre es noch so glänzend und großartig in den Augen der Welt! Im Stand der Gnade sein, in der Freundschaft mit Gott leben und Ihn von Herzen lieben und Christus, seine Person, sein Werk, sein Evangelium, seinen Geist zur Norm des Lebens und des Handelns machen, dann hat alles Ewigkeitswert und wäre es noch so unscheinbar und unbedeutend gewesen in den Augen der Welt!

3. Und das dritte Wort: Geteilt! Das Reich des Königs Belsazer ist geteilt worden. Geteilte Reiche wie damals: geteiltes Deutschland, geteiltes Korea, geteiltes Vietnam, ist es nicht das harte, leidvolle Schicksal unserer Zeit als Folge schauriger Kriege und noch schaurigerer Weltanschauungen, die dahinterstanden oder dahinterstehen? Geteilt! Viel schlimmer noch als geteilte Reiche ist das Geteilt-sein, das Getrennt-sein von Gott durch die schwere Sünde, die jedesmal das Risiko in sich schließt, dass sie ihre furchtbare Fortsetzung und Verewigung findet in der Trennung von Gott durch die ewige Verdammnis im Augenblick des Urteiles Gottes im Gericht! Wir hören es heute nicht mehr gern und man gilt als völlig altmodisch, wenn man es als Priester noch wagt, daran zu erinnern, dass Christus mindestens 20mal von der Möglichkeit der ewigen Trennung von Gott in der Verdammnis der Hölle gesprochen hat! Das ist schlimmste Vogel-Strauß-Politik auf religiös-sittlichem Gebiet, wenn man sich einredet oder einreden lässt, dass das, was da in den Evangelien und Katechismen von den Letzten Dingen (Tod, Gericht, Himmel, Hölle) steht, nur Mythos oder fromme Kindermärchen sind. „Im übrigen" - so hat mir einmal ein in Sünden Ergrauter, dem ich ins Gewissen redete, gesagt – „im übrigen spar' ich mir das Sterben bis zuletzt auf und dann ist immer noch Zeit zur Bekehrung, wenn das etwa nötig sein sollte. Wir kommen ja doch alle, alle, alle in den Himmel!" Nein, wer so denkt und lebt, der wird im Augenblick des Todes nicht mehr die Gnade der Bekehrung haben und keine Zeit mehr dazu haben, denn wie gelebt, so gestorben, wie dein Sonntag, so dein Sterbetag, wohin sich der Baum neigt, dorthin fällt er! Von Gott geteilt! Von Gott getrennt für immer und ewig! Entsetzlich! Ich meine, da wären die gewaltigen, wuchtigen Bitten der Allerheiligenlitanei für uns alle und füreinander sehr am Platze: "Von aller Sünde, erlöse uns, o Herr! Von einem jähen und unversehenen Tode, erlöse uns, o Herr! Von Zorn und Hass und allem bösen Willen, erlöse uns, o Herr! Vom Geiste der Unlauterkeit, erlöse uns, o Herr! Am Tage des Gerichtes, erlöse uns, o Herr! Dass du uns verschonest ..., dass du uns verzeihest..., dass du uns zu wahrer Buße führen wollest... dass du unsere Seelen und die Seelen unserer Brüder, Verwandten und Wohltäter vor der ewigen Verdammnis bewahren wollest, wir bitten dich, erhöre uns!“

 

Brüder und Schwestern in Christus! Wer von euch je an einem großen Strafprozess teilgenommen hat, der kann die Spannung nicht vergessen, die über dem ganzen Gerichtssaal lag, als schließlich nach stundenlanger Beratung die Richter heraustraten und den Urteilsspruch verkündeten. Es sind Augenblicke atemloser Stille, die der Urteilsverkündigung vorausgehen. Alle Augen sind auf den Richter gerichtet, bis die entscheidenden Worte kommen: Schuldig — oder freigesprochen! Dann wendet sich der Blick unwillkürlich auf den Angeklagten, um zu sehen, wie das Urteil auf ihn wirkt.

Wie wird es wohl einmal sein, wenn die ganze Menschheit vor Gott versammelt steht, um in diesem gewaltigsten und erhabensten Schiedsspruch aller Zeiten ihr endgültiges, unwiderrufliches Urteil entgegenzunehmen, darunter auch ein jeder von uns?

Vom römischen Kaiser Titus, der als Feldherr die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr., wie sie der Herr in seiner Gerichtsrede vorausgesagt hatte, herbeiführte, von diesem Heiden wird erzählt, dass er keinen Tag beschloss, ohne sich die Frage in einer ernsten Gewissenserforschung gestellt zu haben: Habe ich heute etwas Gutes getan? Wenn er am betreffenden Tag nichts Gutes zu verzeichnen hatte, schrieb der Heide in sein Tagebuch den harten Satz: Diem perdidi! Es war ein verlorener Tag! — Wehe uns, wenn wir in der Stunde des Gerichtes über uns selbst das harte Urteil fällen müssten: Vitam perdidi! Das Leben habe ich verloren! Es war ein sinnloses, ein wertloses Leben in den Augen Gottes. Und nun habe ich auch noch das ewige Leben verloren!

Der heutige vorletzte Sonntag im Kirchenjahr soll uns aufrütteln und mahnen im Sinn des vielsagenden Liedes: "Herr, ich bin dein Eigentum, dein ist ja mein Leben, mir zum Heil und Dir zum Ruhm hast du mir´s gegeben. Väterlich führst du mich auf des Lebens Wegen meinem Ziel entgegen. — Bald kommst du mit großer Kraft zum Gericht auf Erden. Denn ich soll zur Rechenschaft dargestellet werden. Dein Gericht schonet nicht, Richter aller Welten, denn du willst vergelten!“