15. Sonntag im Jahreskreis - C
gehalten in St. M. Loreto am 16. Juli 1987
Es gibt ein sicheres Mittel, Gottes Barmherzigkeit gegen uns Menschen zu erlangen: Es ist unsere eigene Barmherzigkeit gegenüber dem notleidenden Mitmenschen. Der Herr hat ja in der Bergpredigt gesagt: "Selig die Barmherzigen! Sie werden Barmherzigkeit erlangen."
Wie aber kann uns Gott Barmherzigkeit erweisen, wenn wir für den Mitmenschen, vor allem für den notleidenden, nur ein hartes Herz, eine verschlossene Hand, ein rücksichtsloses Benehmen, eine nachträgerische Haltung und haßerfüllte, lieblose Worte und Gedanken haben!? Hierin muss immer wieder neu eine radikale Wandlung in uns vor sich gehen, ganz gleich, ob es uns leicht oder schwer fällt. Sonst kann kein Friede in unseren Herzen, in unseren Ehen und Familien, in unseren Völkern und zwischen den Völkern einkehren.
Ein Beispiel sei erzählt, das mich stark beeindruckt hat, als ich es bald nach dem Krieg in einer damals neu entstandenen Zeitschrift las:
In London ist im Juni 1943, also mitten im Zweiten Weltkrieg, ein Apostel der barmherzigen Nächstenliebe gestorben: der gelehrte, demütige, heiligmäßige Dominikanermönch Vinzenz Mac Nabb. Alle kannten ihn. Er gehörte zum Stadtbild der Sechsmillionenstadt London. In seinem abgetragenen Habit, dessen er sich nie schämte, war er überall zu finden: auf den Kanzeln der Kirchen, auf den Kathedern der Hörsäle, im Hyde Park auf einer leeren Kiste, die ihm als improvisierte Rednerbühne diente, oder an den belebtesten Straßenecken. Und überall predigte er die Frohbotschaft von der Barmherzigkeit und Liebe des göttlichen Sünderheilands und von unserer Verpflichtung, Ihn darin nachzuahmen. Immer wieder sprach er von diesem einen Notwendigen für die damalige friedlose Zeit: von der Barmherzigen Liebe! Und er sagte es offen und ehrlich, aber auch aufrüttelnd gerade heraus: "Christentum ist entweder Leben in Christus und das heißt: leben, kämpfen, arbeiten wie Er für die Mitmenschen, für die Gesundheit und das Heil ihrer Seelen und ihrer Leiber, oder unser Christentum ist nur Plunder, fauler Zauber von Worten und Gebärden... Wir dürfen nicht wie der Mörder Kain Gott antworten: 'Bin ich denn der Hüter meines Bruders?' Ja, tausendmal ja, wir sind es und müssen es sein! Gerade in den Armen und Ärmsten dieser Welt, im Bruder in leiblicher und erst recht in seelischer Not tritt uns Christus leibhaftig entgegen..."
Eines Tages predigte P. Vinzenz Mac Nabb wieder einmal im Londoner Hyde Park. Ein langer Kerl mit aufgedunsenem Gesicht machte sich während der Predigt ständig unangenehm bemerkbar und störte die Predigt. Da stieg der Pater von der Kiste herab, bahnte sich einen Weg durch die Menge und — während der große Kerl sich drohend mit erhobener Faust zur Verteidigung bereitstellte — sank auch schon der Pater nieder in den Schmutz des regnerischen Tages
küßte die Füße des langen Kerls und sagte: "Verzeih' mir, Bruder, dass ich so schlecht gepredigt habe, so dass ich Dich nicht bewegen und erschüttern konnte!"
Wer war nur dieser P. Vinzenz Mac Nabb? War er ein Narr, der um jeden Preis aufsehen erregen wollte? Ein Sonderling? Ein Schwärmer? Ein Träumer? Nein, nichts von all dem. P. Vinzenz Mac Nabb war nur – ähnlich etwa wie Mutter Teresa von Kalkutta heute - ganz durchdrungen von der Tatsache, dass das Wesen des Christentums nach dem Wort Jesu Christi in der barmherzigen Liebe besteht oder aber kein Christentum ist.
"Daran soll die Welt erkennen, dass ihr Meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt wie Ich euch geliebt habe!" Auf Grund dieser Worte Christi sprach P. Vinzenz Mac Nabb immer wieder davon und handelte auch danach, dass wir alle wieder in Liebe und Barmherzigkeit eine große Familie werden müssen.
Ja, wir alle, die wir als Erlöste und Getaufte eine große Gottesfamilie und Glieder am geheimnisvollen Leib Christi sind, sind verpflichtet, in christlicher Solidarität und in christlichem Lastenausgleich – "invicem membra" - untereinander, zueinander, miteinander Glieder am gleichen Leib, so schreibt der hl. Paulus(1 Kor 12,25) - den leidenden, kranken, hungernden Gliedern zu helfen und beizustehen. Oder hat uns denn das Christuswort nichts mehr zu sagen: "Was ihr dem Geringsten Meiner Brüder getan habt, das habt ihr Mir getan? Und was ihr dem Geringsten Meiner Brüder nicht getan habt, das habt ihr Mir nicht getan!"? Der Herr gebraucht hier nicht etwa ein "als ob": als ob wir es Ihm getan oder nicht getan hätten, nein, er sagt ganz eindeutig: Das habt ihr Mir getan oder nicht getan! Da geht es also nicht etwa nur um ein schönes, sinnreiches Gleichnis, sondern um Realität und Wirklichkeit! Ihm getan, dem menschgewordenen Sohn Gottes!
Oder Ihm nicht, getan!
Ein paar Jahre ist es her: vor einer politischen Wahl fuhr ein Lautsprecherwagen einer nichtchristlichen Partei durch die Straßen Salzburgs und schrie in ständiger Wiederholung das Wort Christi: "Ich war hungrig und ihr habt mich gespeist, ich war durstig, und ihr habt mich getränkt..." Daran wurde die Bemerkung angefügt: „Die andern, die sich Christen nennen, reden immer so viel davon. Wir aber wollen es wahrmachen und erfüllen!"
Sollen wir Christen uns in solcher Weise von Nichtchristen beschämen lassen? Sind die Apostel der barmherzigen Liebe gegenüber dem Bruder in Not etwa wirklich bei uns ausgestorben? Haben Franziskus und Antonius von Padua, Elisabeth von Thüringen, Camillus von Lellis, Vincent von Paul, Damian Deveuster, Don Bosco und Vinzenz Mac Nabb und wie sie alle heißen, die Helden und Heiligen der barmherzigen Nächstenliebe, der Caritas, keine Nachahmer? Oder gibt es bei uns nur noch solche, die es dem alttestamentlichen Priester und Leviten im Gleichnis vom barmherzigen Samaritan nachmachen: "Er sah ihn, den armen, ausgeplünderten, zusammengeschlagenen Bruder in Not - und ging vorüber...?
Wir werden einmal nach den Werken der leiblichen und geistlichen Barmherzigkeit, die wir verrichtet oder unterlassen haben, gerichtet werden. Kennen wir sie überhaupt noch, diese Werke der Barmherzigkeit? Die leiblichen Werke der Barmherzigkeit: 1. den Hungernden zu essen geben, 2. den Durstigen zu trinken geben, 3. die Fremden und Obdachlosen beherbergen, 4. die Nackten bekleiden, 5. die Kranken besuchen, 6. die Gefangenen erlösen, 7. die Toten begraben.
Und die geistlichen Werke der Barmherzigkeit: 1. die Sünder zurechtweisen, 2. die Unwissenden belehren, 3. den Zweifelnden recht raten, 4. die Betrübten trösten, 5. das Unrecht mit Geduld ertragen, 6. denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen, 7. für Lebende und Tote bei Gott bitten.
Es sei diese Predigt mit dem in Wort und Ton aufrüttelnden, aus dem evangelischen Raum stammenden Lied "Vom Weg der Barmherzigkeit" geschlossen:
1.Zwischen Jericho und Jerusalem liegt der Weg der Barmherzigkeit.
Er ist steil und mühsam und unbequem, dieser Weg der Barmherzigkeit. Da hat eine Räuberbande einen Mann umstellt und bedroht, bald lag er am Straßenrande, geschlagen, beraubt und halbtot. Hört, wie er schreit auf dem Weg der Barmherzigkeit!
2.Da kam ein Priester geschritten, auf dem Weg der Barmherzigkeit. Und dann einer von den Leviten, auf dem Weg der Barmherzigkeit. Sie konnten nicht länger verweilen, der Mann tat ihnen zwar leid, doch sie mussten zum Tempeldienst eilen, und der Tempel, der Tempel war weit! Hat keiner Zeit, auf dem Weg der Barmherzigkeit.
3.Doch die Hilfe war gar nicht ferne, auf dem Weg der Barmherzigkeit. Denn einer kam, der half gerne, auf dem Weg der Barmherzigkeit. Ob die andern ihn auch verlachten, weil ein Samariter er war, ihn kümmerte nicht, was sie dachten, er machte Barmherzigkeit wahr. Er war schon weit, auf dem Weg der Barmherzigkeit.
Machen wir es ihm nach! Machen wir es dem göttlichen Samaritan nach, der sich zu der im Sündenfall vom Teufel ausgeraubten, wundgeschlagenen Menschheit niederbeugte, in den von Ihm gestifteten Sakramenten Öl und Wein in ihre Wunden träufelte, sie in die Herberge der von Ihm gestifteten Kirche brachte und sich um ihre Heilung sorgte und für sie den kostbarsten Denar bezahlte, das Lösegeld seines kostbaren Blutes.
"Geh hin und tue desgleichen!" Amen.