3. Sonntag im Jahreskreis – Lesejahr C

gehalten in St. M. Loreto am 25.1.1986

 

Christus nach dem Beginn seines öffentlichen Lehrens und Wirkens in seiner Heimatstadt Nazaret! Man hat das, was uns heute bei Lk 4,14ff berichtet wird, die Nachprimiz Jesu in seiner Heimatstadt genannt: Die Primiz feierte er bei seiner Taufe im Jordan mit der Offenbarung seiner Größe: vielgeliebter Sohn des himmlischen Vaters, gesandt als Messias. Das Primizmahl feierte er auf der Hochzeit zu Kana: Bei seinem ersten Wunder offenbarte er seine Herrlichkeit und seine Jünger glaubten an ihn. Dann zieht er von Ort zu Ort durch Galiläa, lehrend und wunderwirkend. Und nun kommt er nach Nazareth. Er stellt sich in der Heimat beim samstäglichen Synagogengottesdienst vor: „Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen, reichte man ihm das Buch des Propheten Isaias. Er schlug das Buch auf (scheinbar ganz zufällig...)“

Bei diesem zufälligen Aufschlagen der Hl. Schrift bin ich hängengeblieben, als ich mir in der Vorbereitung der Predigt das Ev durchlas.

 

Eine kleine Anekdote: Gestern musste ich den Klerikern im Kolleg der Missionare vom Kostbaren Blut einen Einkehrtag halten. Ich hatte nicht gewusst, worüber ich zu diesen Priesterkandidaten sprechen sollte. Da versuchte ich es auch mit dem „zufälligen“ Aufschlagen der Hl. Schrift, um bei verschlossenen Augen auf die Stelle zu tippen, über die ich die Betrachtungspunkte vorlegen sollte. Es kam dabei als Thema der Betrachtungen bei diesem blinden Tippen auf eine Schriftstelle der Anfang des Jakobusbriefes heraus. Es wurde ein ganz guter Einkehrtag, denn Jakobus mit seiner ströhernen Epistel, in der er vor den Zungensünden des lieblosen Redens und Urteilens und Kritisierens warnt und vom Glauben, der ohne Werke tot ist, redet, hat uns viel zu sagen, gerade in unserer Zeit. Und ich erzählte, wie ich dieses blinde Aufschlagen der Hl. Schrift, die doch an jeder Stelle groß und vielsagend ist, gar manchmal schon praktiziert habe. So einmal bei einer Professpredigt bei den Missions—Franziskanerinnen in Gaißau in Vorarlberg. Ich hatte bei der Professfeier für 10 junge Missionsschwestern für die Festpredigt einspringen müssen. Erst am Abend vorher erfuhr ich es. Ich schlug die Hl. Schrift auf, um mir Predigtthema und Predigtstoff zu holen und ich traf auf die Stelle Röm 14,7f: „Leben wir, so leben wir dem Herrn...“. Es wurde nach einer langen nächtlichen Meditation darüber eine gute, dem Echo nach, das sie hervorrief, sogar eine sehr gute Predigt und erst neulich auf Weihnachten hat mir eine dieser Missionsschwestern aus Kolumbien wieder geschrieben, dass sie meine Worte von damals über dieses Pauluswort nie mehr vergessen habe...

Gewiss, dieses zufällige Aufschlagen der Hl. Schrift kann auch ein sehr gewagtes Unterfangen sein. Vielleicht kennen Sie die Geschichte von dem Pfarrer, der es mit der Hl. Schrift auch so machte und sich am Anfang eines neuen Jahres vorgenommen hatte, in solcher Weise (durch blindes Aufschlagen der Hl. Schrift) sich jeden Tag für jeden Tag ein biblisches Losungswort zu suchen, das er dann befolgen wolle. Gleich am 1. Tag des neuen Jahre schlug er so die Hl. Schrift auf und das herausgegriffene Losungswort, auf das er stieß, war Mt 25,5: „Da schleuderte er die Silberlinge in den Tempel, ging hin und erhängte sich“. Das kann doch Gott kaum von mir fordern, dachte der gute Pfarrer. So schlug er die Hl. Schrift in der gleichen Weise nochmals auf. Diesmal traf sein Zeigefinger bei verschlossenen Augen auf Joh 13,27: „Jesus sprach zu ihm: ‘Was du tun willst, tue bald!‘“ Da gab es der Pfarrer auf, sich in solcher Weise seine Tageslosung und den Betrachtungsstoff zu suchen. Er hätte es gar nicht aufgeben müssen. Denn warum sollte ich nicht einmal, wenn mich Gott schon auffallend zweimal auf den Verrat des Judas stoßen lässt, nicht darüber und über das schaurige Ende des Verräterapostels betrachten, heilsam betrachten können? Hat nicht Judas immer wieder herauf durch die Jahrhunderte unter den Priestern und Ordensleuten seine Nachfolger, seine Nachahmer gefunden? Wäre das nicht auch bei mir möglich? Der hl. Philipp Neri pflegte sein Morgengebet jeden Tag mit der Bitte zu beschließen: „Herr, hilf du heute deinem Philippus, weil er dich sonst verraten würde!“ Und ist nicht jede Sünde, zumindest jede schwere Sünde ein Verrat an Christus?

 

Nun aber zurück zum heutigen Ev:

Christus schlägt also in der Synagoge von Nazaret scheinbar blind das ihm gereichte Buch Isaias auf und scheinbar zufällig stößt er auf die Stelle bei Is 61,1ff: „Der Geist des Herrn ruht auf mir. Denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, um den Armen die Heilsbotschaft zu bringen, um den Gefangenen die Befreiung und den Blinden das Augenlicht zu verkünden, um die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen.“ Dann schloss er das Buch, gab es dem Synagogendiener zurück und setzte sich. Und die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Voller Neugier. So ähnlich etwa, wie man bei einer Primiz die erste Predigt oder Ansprache des Neupriesters erwartet. Ob er reden kann? Wie er wohl predigt? Er, der bei uns aufgewachsen ist, bei uns in die Schule gegangen ist und durch nichts Besonderes aufgefallen ist, was wird er nun uns, seinen Landsleuten, zu sagen haben? Wie wird er wohl den vorgelesenen Schrifttext auslegen und deuten? Eigentlich ist es doch ein gewaltiger und kühner Text, den er da gerade vorgelesen hat. So viel wussten doch wohl alle halbwegs schriftkundigen Nazarethaner: Der in diesem Text des Propheten Isaias Gemeinte kann nur der Messias, der Gesalbte des Herrn sein, der da kommen wird und mit dem eine neue Zeit beginnen soll, die große Zeit der Gnade und des Heils!

„Da begann Er ihnen zu beweisen: ‘Heute hat sich das Schriftwort, das Ihr eben gehört habt, erfüllt!‘“ Das war die ganze Auslegung und Erklärung, die Jesus jetzt den Nazarethanern bot: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt!“ Dieses „Heute“ war damals ungeheuerlich für die Synagogenbesucher an jenem Sabbat in Nazareth. Dieser Jesus hat behauptet, mit Ihm sei die Erfüllung aller Verheißungen des AT da, mit Ihm sei der Tag des Heiles angebrochen. Mit diesem „Heute“ haben wir sogar eine Eigentümlichkeit des LkEv vor uns. Nur bei Lukas finden sich solche Heute-Sätze: in Jericho durfte Zachäus, der Oberzöllner aus dem Munde Jesu das Wort vernehmen: „Heute muss ich in deinem Hause Einkehr halten!“ (Lk 19,5). Sogar ein zweites Mal kommt bei dieser Gelegenheit aus dem Munde Jesu das „Heute“: „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren!“ (Lk 19,9). Im Gleichnis vom verlorenen bzw. wieder heimgekehrten Sohn, wie es Lukas im 15. Kapitel seines Evangeliums aufgezeichnet hat, sagt der Vater: „Heute müssen wir ein Fest feiern und uns freuen...“ Am Kreuz spricht Jesus dann noch einmal ein solch heilsträchtiges „Heute“, wenn er zum rechten Schächer sagt: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein!“ (Lk 23,43).

Dieses „Heute“ ist kennzeichnend für die einmalige heilsgeschichtliche Situation, die mit dem Kommen Jesu gegeben war. Deshalb erklang es zum ersten Mal auf den Fluren von Bethlehem aus dem Mund der Engel: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren...“ (Lk 2,11). Und dieses „Heute“ gilt nun immer, tagtäglich neu wird uns das Heil durch den Heiland angeboten.

Eigentlich war es unerhört und gewaltig wie ein Paukenschlag, was Jesus da sagte, was er da zu sagen wagte. Denn kurz und knapp formuliert bedeutet das nichts anderes, als dass Er, der unter ihnen aufgewachsen war und an dem sie bisher gar nichts Besonderes beobachtet hatten, der von den Propheten verheißene, seit Jahrhunderten sehnsüchtig erwartete und erbetete Messias ist. Und Jesus wird nun seinen Landsleuten dargelegt haben, wie das sein Lebensprogramm fortan ist, was Isaias vor Jahrhunderten vom kommenden Messias vorausgesagt hat: der Geist des Herrn, der Hl. Geist, ruht auf Ihm. Und dazu ist Er, Jesus, gesalbt und gesandt, um:

1.    den Armen die Heilsbotschaft zu verkünden, um

2.    den Blinden das Augenlicht zubringen, um

3.    den Gefangenen die Befreiung anzukündigen und die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen, und um

4.    für alle ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen.

Die Nazarethaner verstanden das damals nicht. Zuerst waren sie begeistert, dass sich einer aus ihnen, ein Landsmann, so etwas zumutete. Als sie aber mehr darüber nachgedacht hatten, waren sie entsetzt und fast schockiert: Was der sich zutraut und einbildet, das ist ja unerhört. Es regt sich Widerspruch, Aufregung, Empörung, und schließlich drängt man ihn aus der Synagoge hinaus, aus der Stadt hinaus und versucht, ihn von dem Felsen hinunterzustürzen, auf den die Stadt Nazareth gebaut war...

Und doch zeigte Jesus in den weiteren Wochen und Monaten seines öffentlichen Wirkens, wie wahr er gesprochen hatte: Er erwies sich als vom Hl. Geist erfüllt und gesalbt. Und immer mehr verwirklichte Er in wunderbarer Weise sein Lebensprogramm: Er verkündete vor allem den Armen die Frohbotschaft vom Heil, nahm sich ihrer an, solidarisierte sich mit ihnen und sagte es in der ersten Seligpreisung seiner Bergpredigt: „Selig die Armen, ihrer ist das Himmelreich!“

Und er verkündete den Blinden das Augenlicht, das ihnen geschenkt werden sollte: Er heilte Blinde und machte sie sehend. Er erwies sich für die geistig Blinden als das wahre Licht und zeigte ihnen, dass es auf mehr ankommt als etwa nur auf das kurze Erdenleben...

Und er vermittelte den Gefangenen die Freiheit, den in Sünde und Laster Verstrickten schenkte er in der Sündenvergebung die Freiheit der Gotteskinder und erlöste uns alle durch seinen Sühnetod am Kreuz aus der Knechtschaft des Teufels und der ewigen Verdammnis.

Und Er rief für alle Menschen ein Gnadenjahr des Herrn aus: in Ihm und durch Ihn ist die Zeit der Gnade, die Zeit des Heils angebrochen.

Und was Jesus Christus in der Verwirklichung seines Lebensprogramms getan hat, das trug Er auch seiner Kirche und allen in ihr, die Anteil erhalten an seinem Lehramt, Priesteramt und Hirtenamt, auf: die Armen, die Blinden, die Gefangenen und Zerschlagenen sollen allezeit die caritativen und pastoralen Sorgenkinder jeder kirchlichen Tätigkeit sein nach dem Vorbild des göttlichen Messias!

Helfen wir dabei mit, jeder an seinem Platz, jeder in seiner Art, jeder in der ihm zugeteilten Rolle im Priesterstand, im Ordensstand, im Laienstand. Und halten wir uns selber immer wieder ganz fest an die Heilsbotschaft Christi, lassen wir uns von ihm heilen von aller Blindheit des Herzens, lassen wir uns von ihm befreien von allen Fesseln der Sünde zur wahren Freiheit der Gotteskinder und leben wir jeden Tag dieses neuen Jahres, dass es wirklich in unserem Lebensbuch als heiliges Jahr, als Jahr des Heiles des Herrn verzeichnet werden kann. Amen