31. Sonntag im Jahreskreis - Lj B

gehalten am 31. Oktober 1976 in St. M. Loreto

 

Ein Dialog zwischen einem Schriftgelehrten und Jesus ist der Inhalt des heutigen SoEv. Der Inhalt des Dialogs aber ist Frage und Antwort bezüglich des "größten Gebotes".

Zum rechten Verständnis dieses Dialogs mit seiner Frage und seiner Antwort muss man wissen, dass die sogenannte Tora, das Gesetzbuch des Mose, zwar aus einer Reihe von Gesetzen besteht, dass die Pharisäer aber diese Gesetze und Gebote Gottes noch durch viele Paragraphen vermehrt hatten. Die pharisäische Gesetzesauslegung zur Zeit Jesu hatte aus dem Gesetz 613 Einzelsatzungen herausgearbeitet. Davon waren 248 "Gebote des Handelns" und 365 "Gebote des Nicht—Handelns".

Die praktische Unmöglichkeit, alle diese Vorschriften, Gesetze und Gebote und Gesetzesparagraphen im täglichen Leben immer vor Augen zu haben, ließ die jüdischen Gesetzeslehrer bald die Unterscheidung treffen zwischen "leichten Geboten", die durch eine Bußleistung abgegolten werden konnten, und den "schweren Geboten", von denen man nicht dispensiert werden konnte.

Die Frage nach dem Größten und wichtigsten unter all den vielen Geboten wurde dabei drängend: man fragte sich, ob es nicht ein Gebot gibt, in welchem gleichsam die ganze Tora zusammengefasst ist und dessen Befolgung das ganze Gesetz einschließt.

So meinte Rabbi Hillel, ein Zeitgenosse Jesu, das ganze Gesetz lasse sich negativ in der sogenannten "Goldenen Regel" zusammenfassen: "Was du nicht willst, das man dir tut, das füg' auch keinem andern zu!" Und Rabbi Hillel meinte: "Das ist das ganze Gesetz. Alles Übrige ist nur Erläuterung."

So kostbar nun diese "Goldene Regel" ist, die von manchen Österreichern sehr leger noch kürzer zusammengefasst wird in dem bekannten Satz: "Leben und leben lassen", so ist doch darin niemals das ganze von Gott gegebene Gesetz zusammengefasst.

Unser Herr und Heiland gibt auf die Frage, des Schriftgelehrten eine ganz andere Antwort. Er sagt ihm klipp und klar, was wirklich das "größte", das erste, das wichtigste von allen im Gesetz niedergelegten Geboten ist: "Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Gemüt und mit deiner ganzen Kraft! Das zweite ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden." Es geht um das Doppelgebot der Liebe, der Gottes- und der Nächstenliebe! Das erste Gebot ist das der Gottesliebe. Es wird uns dabei auch klar gesagt, wie wir Gott lieben müssen: Aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüt, aus ganzer Kraft! Was soll diese Häufung von Ausdrücken? Es kommt dabei nur auf die Betonung des ganzen Menschen an, der als Ganzer ganz Gott lieben soll, nicht halb, nicht mit Vorbehalten und stillen Reserven, sondern mit der vollen, totalen Ganzhingabe des ganzen, leibgeistigen Wesens, mit allen Strebungen und Kräften, wie sie dem Menschen eigen sind.

Fast erschrickt man, wenn man das hört, dass dies das größte und erste Gebot ist, in welchem alle Gesetze zusammengefasst sind. Tun wir denn das, dass wir Gott wirklich so, so total, mit allen unseren Kräften und Fähigkeiten und mit der Ganzhingabe unseres Wesens lieben? Kann denn das überhaupt ein Mensch Gott so ganz, so vorbehaltlos, so ungeteilt zu lieben? Wir bleiben fast alle hinter diesem größten und ersten Gebot zurück, oft sehr weit zurück... Aber es hat doch - Gott sei Dank - immer wieder Menschen gegeben, die Gott ganz und vorbehaltlos, geliebt haben: Die Heiligen! Ich denke da beispielsweise an den sogenannten seraphischen Heiligen, an Franz von Assisi. Wie hat dieser Heilige doch Gott so innig, so stark, so glühend, so vorbehaltlos geliebt! Bekannt ist die Szene, wie man ihn eines Tages in der Nähe von Portiuncula ganz untröstlich weinend angetroffen hat. Man fragte ihn, warum er denn so untröstlich weine. Und die Antwort war: Weil die Liebe nicht geliebt wird! Gott ist die Liebe und er wird so wenig geliebt! Der hl. Bernhard v. Cl. hat einmal ganz im Sinn des heutigen Evangeliums gesagt, das Maß, mit dem wir Gott lieben müssen, sei dies, dass wir Ihn lieben ohne Maß. Aber wie wenige tun das! Wie klein ist doch die Gottesliebe in den Herzen der allermeisten Menschen! Ich rede da gar nicht von jenen, die kaum je in ihrem Leben in Liebe an Gott denken und kaum je mit Gott in Liebe sprechen im Gebet, sondern die Gott in ihrem Leben und Denken, Arbeiten und Schaffen zu einer armseligen Nebensache degradieren. Ich rede von jenen, die sich wirklich um echtes Christentum redlich bemühen: Wie klein ist auch bei diesen oft die Gottesliebe, vor allem dann, wenn Gott Opfer und Verzicht fordert!

Nun stellen wir aber in der Antwort Jesu auf die Frage des Schriftgelehrten fest, dass er zum Gebot der Gottesliebe sogleich das Gebot der Nächstenliebe hinzufügt und sagt: „Das zweite Gebot ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden!“

Beim Gebot der Nächstenliebe sagt Christus nicht, dass wir den Nächsten genau so wie Gott, nämlich aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüt, aus ganzer Kraft lieben müssen. Das wäre hier eine Überforderung. Er sagt nur, wir sollen den Nächsten lieben wie uns selbst. Hier klingt positiv das an, was negativ in der Goldenen Regel des Rabbi Hillel ausgedrückt worden ist: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg´ auch keinem andern zu!“ Positiv heißt das: „Was du möchtest, dass man es dir gegenüber macht: dass man dir gegenüber gut gesinnt ist, wohlwollend und rücksichtsvoll dir entgegenkommt, das vergönn auch dem andern und nach Möglichkeit auch deinem Nächsten! Entscheidend wichtig beim Gebot der Nächstenliebe ist nun aber dies, dass es Christus an das Gebot der Gottesliebe unzertrennlich geknüpft hat. Beide Gebote gehören wie ein unzertrennlicher Siamesischer Zwilling zusammen, sodass das eine nicht ohne das andere gehalten werden kann.

Man hat viel darüber nachgedacht, warum die beiden Gebote der Liebe so eng miteinander verknüpft und verbunden worden sind durch Jesus Christus, wo doch im AT das Gebot der Gottesliebe getrennt von dem der Nächstenliebe aufgezeichnet ist, das eine steht so, wie es Jesus dem Schriftgelehrten in seiner Antwort gesagt hat, im Buch Deuteronomium 6,4, das andere, das Gebot der Nächstenliebe steht zwar auch schon im AT, aber nicht an der gleichen Stelle, wie das Gebot der Gottesliebe, es steht im Buch Levitikus 19,18.

Christus verbindet beide Gebote der Liebe unzertrennlich miteinander. Warum wohl und wieso? Weil sich unsere Gottesliebe nur dann als echt und glaubwürdig erweist, wenn wir den Mitmenschen, vor allem den Bruder in Not, als den ansehen, dem Gott in Christus und durch Christus seine ganze Liebe entgegenbringt. Wir lieben Gott nur dann echt und wahr, wenn wir uns immer wieder neu um die Nächstenliebe bemühen, weil eben das Gebot der Liebe untrennbar ein Doppeltes ist. Der Liebesjünger Johannes hat schon recht, wenn er in seinem 1. Brief (1 Joh 4,20) schreibt: "Wenn jemand sagt: 'Ich liebe Gott', aber dabei seinen Bruder hasst, so ist er ein Lügner: denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und wir haben dieses Gebot von Ihm (von Christus): Wer Gott liebt, liebt auch seinen Bruder!"

Heute sind viele in Gefahr, die zwei Gebote der Liebe voneinander zu trennen oder überhaupt nur eines auf Kosten des anderen gelten zu lassen. Da sind heute die einen, bei denen nur die Horizontale, die Nächstenliebe oder wie sie modern sagen: die Mitmenschlichkeit etwas gilt, auf Kosten der Vertikale, auf Kosten der Gottesliebe. Ja, es gibt heute sogar Theologen, die die Behauptung wagen, man müsse ganz für den Mitmenschen dasein und nur dabei ereigne sich dann das, was man so Gottesliebe nennt. Aber bloße Mitmenschlichkeit kann sehr leicht zur Unmenschlichkeit werden, wenn man dem Mitmenschen nicht seine Liebe schenkt aus Liebe zu Gott. Und bloßer Humanismus, womöglich sozialistischer Humanismus ohne Verankerung im Gottesglauben, ist ein sehr gewagtes und gefährliches Ding, aus dem allzu leicht im Sinn des Marxismus dann die Diktatur des Proletariates wird.

Umgekehrt besteht heute bei manchen frommen Seelen heute aber auch die Gefahr, dass die Horizontale überhaupt nichts gilt gegenüber der Vertikale. Wenn fromme Kirchgänger und etwa gar tägliche Kommunikanten recht lieblos sind in ihrem Reden und Urteilen über andere, so würde dabei schließlich das herauskommen, was von den Ungläubigen und den kalten und lauen Randchristen dann abfällig als "Betschwester" im üblen Sinn bezeichnet wird. In diese Gefahr konnten jene großen Caritasheiligen, die uns in der Erfüllung des doppelten Gebotes der Liebe strahlende Vorbilder sind, gar nicht kommen. Ich denke da beispielsweise an den hl. Vinzenz von Paul: Wie vorbehaltlos hat er doch Gott geliebt, wie gesammelt und fromm war er bei der Feier der hl. Messe, beim Gebet, beim Gottesdienst. Und doch meinte er, dass wir erst dann Gott von Herzen lieben, wenn wir den Mitmenschen, vor allem den Kranken und Notleidenden, mit Liebe und Hilfsbereitschaft, mit Geduld und Güte begegnen. Am Höhepunkt seines Lebens und seines unermüdlichen caritativen Einsatzes, als er auch in den Augen der Welt groß und hoch angesehen dastand, pflegte er abwehrend immer zu sagen, er sei ja doch nichts als ein armseliger Schweinehirt. Christus hat dies vornehmer so formuliert: "Und wenn ihr alles getan habt, was euch im Gebot der Liebe aufgetragen war, dann vergesst nicht, dass ihr nur nutzlose Knechte seid!“ Vinzenz von Paul, dieser große Heilige der Caritas, der Liebe, sagte diese harten Worten wohl nur, um jeden Keim falscher, selbstherrlicher und überheblicher Eigenliebe, der sich in seiner Seele noch regen konnte, sogleich zu zertreten, aber auch, um sich bewusst zu bleiben, dass wir auch in der Nächstenliebe nie genug tun können, selbst dann, wenn wir größte Werke der Caritas aufgebaut hätten.

Ein Wort noch zum Schluss des Dialogs im heutigen SoEv: Der Schriftgelehrte gibt dem göttlichen Heiland vollständig recht. Er betont sogar: "Gott mit ganzem Herzen und mit ganzem Verstand und mit ganzer Kraft lieben und den Nächsten lieben wie sich selbst ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer!"

Jesus darauf: "Du bist nicht ferne vom Reiche Gottes!" Ein herrliches, großartiges Lob aus dem Munde des Heilands für diesen Schriftgelehrten. Warum war er nicht fern vom Reiche Gottes? Weil die Mitte seiner Religiosität die Liebe war. Der Mensch, der das Hauptgebot der Liebe unter den vielen Gesetzen und Geboten als die Sinnmitte des Gesetzes erkannt hat, der erkennt das Wesentliche des Willens Gottes und sucht es zu erfüllen. Darum ist er dem Reich Gottes nicht fern, sondern schon recht nahe.

Unsere Predigt müsste heute eigentlich in eine recht ehrliche und ernste Gewissenserforschung ausklingen, ob denn wir Christen, wir praktizierende Katholiken auch wirklich dieses Lob des göttlichen Heilands, das er dem Schriftgelehrten gespendet hat, verdienen! Dem Reich Gottes nicht fern sein, sondern nahe sein, und immer näher kommen dadurch, dass wir täglich neu ernst machen mit der Erfüllung des Gebotes der Gottesliebe und der Nächstenliebe. Der Lohn dafür wird einmal übergroß sein. Aber halten wir es diesbezüglich lieber mit jenem großen liebeglühenden Heiligen, der sich das zum oft gebrauchten Stoßgebet gemacht hatte: "0 Gott, ich liebe dich, und der einzige Lohn für meine Liebe sei der, dass ich dich immer noch mehr liebe!" Amen.