Allerseelen – Dies irae, dies illa
Bald wird die ergreifende Sequenz „Dies irae“ der Totenmesse vergessen sein, denn seit der Liturgiereform des II. Vaticanums ist das Beten oder Singen dieser Sequenz in der Totenmesse (Requiem) nicht mehr vorgeschrieben, sondern nur noch dem Ermessen des zelebrierenden Priesters anheimgestellt, ob er diesen vielsagenden Text noch betet oder singen lässt. Und weil es bei einem „Requiem“ heute möglichst schnell gehen muss, wird aus zeitlichen Gründen fast immer darüber hinweggegangen. Auch andere Gründe und nicht bloß Zeitmangel mögen mitspielen, dass das „Dies irae“ nicht mehr erklingt: Es erinnert ja zu sehr an den göttlichen Richter und sein unendlich gerechtes Gericht. Daran erinnert zu werden behagt aber dem leichtlebigen Menschen unserer Zeit nicht mehr, zumal auch moderne Theologen mitgeholfen haben und mithelfen, nur noch vom barmherzigen, nicht mehr aber vom gerechten Gott zu reden, der das Gute belohnt und das Böse bestraft.
Aber gerade im Allerseelenmonat November würde es sich lohnen, das „Dies irae“ wieder einmal zu besinnlichem Beten hervorzuholen und über die einzelnen Strophen zu meditieren. Man würde dann wieder mit größerem Ernst an die Letzten Dinge (Tod, Gericht, ewige Vergeltung, Himmel oder Hölle) und an die jenseitige Läuterung im Fegfeuer denken.
1. Wer ist der Dichter des „Dies irae“? Darüber herrscht bei den Gelehrten keine Übereinstimmung. Die meisten Kenner frühmittelalterlicher liturgischer Dichtungen nehmen aber immer noch an, dass der selige Thomas v. Celano (+ 1260) sein Dichter sei.
Dieser in der Stadt Celano in der Provinz Aquila in den italienischen Abruzzen geborene Mönch war wahrscheinlich schon Priester, als er sich dem aus Spanien nach Portiunkula bei Assisi zurückkehrenden hl. Franziskus 1215 als Jünger anschloss. Auf dem Kapitel von 1221 machte er sich dann freiwillig mit dem Provinzial P. Caesarius von Speyer auf den Weg zu einer schwierigen Mission nach Deutschland und wurde Kustos der Franziskanerklöster in Mainz, Worms und Köln. Von Kardinal Hugolin, der am 19. März 1227 zum Papst gewählt worden war als Gregor IX., erhielt Thomas v. Celano den Auftrag, für die Heiligsprechung des Vaters Franziskus die erste offizielle Lebensbeschreibung des seraphischen Heiligen zu verfassen.. Er überreichte diese dem Papst am 25. Februar 1229. Thomas v. Celano hatte ja besonderes vertrauten Umgang mit dem hl. Franziskus gehabt und dessen besonderes Vertrauen genossen. Er war dem hl. Franziskus – wie sich gerade aus der Sequenz „Dies irae“ erschließen lässt – an tief religiösem Ernst und an Innigkeit des Gemütes sehr ähnlich.
2. Was nun den Inhalt des „Dies irae“ betrifft, so kann zunächst einmal kurz folgendes gesagt werden: In 19 Reimstrophen von je drei Zeilen schildert der selige Thomas v. Celano in fließender lateinischer Sprache, die ebenso einfach wie ergreifend ist, ungemein anschaulich und plastisch zuerst die Schrecken des welterschütternden Jüngsten Tages, das Dröhnen der Gerichtsposaune, die die Toten aus den Gräbern ruft, und die Ankunft des allwissenden Richters, vor dem alle erscheinen müssen, um auch über das Verborgenste strenge Rechenschaft zu geben. Schade, dass in der deutschen Übersetzung, und wäre sie noch so gut, die Wucht der Schilderung, wie sie im lateinischen Text spürbar wird, nicht recht zum Ausdruck kommt. Wie hat doch W.A. Mozart, der bekanntlich kurz vor seinem Sterben noch das Requiem zu vertonen suchte, in erschütternder Weise im „Dies irae“ die Gerichtsposaune zum Klingen gebracht: „Tuba mirum spargens sonum ...“
„Tag des Zornes, Tag der Zähren,
wird die Welt in Asche kehren,
wie Sybill´ und David lehren.
Welch ein Graus wird sein und Zagen,
wenn der Richter kommt, mit Fragen
streng zu prüfen alle Klagen!
Laut wird die Posaune klingen,
durch der Erde Gräber dringen,
alle hin zum Throne zwingen.
Schaudernd sehen Tod und Leben
sich die Kreatur erheben,
Rechenschaft dem Herrn zu geben.
Und ein Buch wird aufgeschlagen,
treu darin ist eingetragen
jede Schuld aus Erdentagen.
Sitzt der Richter dann zu richten,
wird sich das Verborgne lichten;
nichts kann vor der Strafe flüchten.
Weh, was werd´ ich Armer sagen,
welchen Anwalt mir erfragen,
wenn Gerechte selbst verzagen?!
König schrecklicher Gewalten,
frei ist Deiner Gnade Schalten,
Gnadenquell, laß Gnade walten!“
Nach diesen acht Strophen, in denen der Dichter den Jüngsten Tag und Gottes unendlich gerechtes Gericht geschildert hat, ob dessen Ernst auch sogar die Gerechten, die Heiligen, die Gott nie durch eine schwere Sünde beleidigt hatten, fast verzagen müssten, erinnert sich der selige Thomas v. Celano daran, dass der „König schrecklicher Gewalten“ („Rex tremendae majestatis“) ja zugleich der gütige Sündenheiland ist, der mit so viel Liebe und verzeihender Barmherzigkeit den Sündern nachgegangen und das verlorene Schaf mit so viel Langmut gesucht hat. Fast klingt es wie in der Fortsetzung jenes Reuegebetes, das wir einst im Religionsunterricht gelernt haben: „O Gott, du hassest die Sünde und strafest sie streng. Du bist voll Liebe gegen mich und bist für mich am Kreuze gestorben; ich aber habe so viel gesündigt. Es reut mich jetzt von Herzen ...“ – Der Dichter des „Dies irae“ aber betet im Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit zum ewigen Richter, der zugleich unser Erlöser ist, und beschwört ihn bei jener Liebe und Barmherzigkeit, die er einst auf Erden den Sündern erwiesen hat, ihn an jenem Tag des Schreckens und der Zähren nicht der ewigen Verdammnis preiszugeben, sondern ihn gnädig zur ewigen Glückseligkeit gelangen zu lassen. Beten wir es in tiefer Reue über unsere Armseligkeit und Sündhaftigkeit dem frommen Franziskus-Jünger Thomas v. Celano nach:
„Guter Jesus, wollst erwägen,
dass Du kamest meinetwegen,
tritt mir nicht zu streng entgegen!
Hast gesucht mich unverdrossen,
hast am Kreuz Dein Blut vergossen.
Es sei nicht umsonst geflossen!
Richter der gerechten Rache,
Nachsicht üb´ in meiner Sache,
eh´ ich zum Gericht erwache!
Seufzend steh´ ich schuldbefangen,
schamrot glühen meine Wangen,
lass mein Bitten Gnad erlangen!“
Der Dichter des „Dies irae“ erinnert dann in seinem Gebet noch den gütigen Sünderheiland daran, wie er Maria Magdalena alle Schuld vergeben hat, weil sie in echter Liebesreue Ihn innig geliebt hat, und wie Er dem rechten Schächer am Kreuz wegen seiner öffentlichen Beichte und aufrichtigen Reue nicht bloß die Lossprechung von aller Sündenschuld, sondern auch den vollkommenen Ablass gewährt hat: „Heute noch wirst du bei Mir im Paradiese sein!“ So darf jeder, auch der größte Sünder auf Gottes Barmherzigkeit hoffen und sich die Weisung des Patriarchen des abendländischen Mönchtums, des hl. Benedikt v. Nursia, zu eigen machen: „An Gottes Barmherzigkeit niemals verzweifeln!“ Gewiss gibt es in der Stunde des Gerichtes, des persönlichen Gerichtes und erst recht des allgemeinen oder Jüngsten Gerichtes, die endgültige Scheidung der Guten von den Bösen, der Schafe von den Böcken, und es gibt für die Guten das ewige Glück im Himmel und für die Bösen die ewige Verdammnis in der Hölle. Aber der reumütige Sünder darf hoffen, dass er trotz aller begangenen Schuld aus Gnade und Barmherzigkeit auf die rechte Seite, auf die Seite der Schafe des Guten Hirten gestellt wird und in die Wohnungen, die den Seligen vorbehalten sind, einziehen darf:
„Hast vergeben einst Marien,
hast dem Schächer noch verziehen,
hast auch Hoffnung mir verliehen.
Wenig gilt vor Dir mein Flehen,
doch aus Gnade lass geschehen,
dass ich kann der Höll´ entgehen!
Bei den Schafen gib mir Weide,
von der Böcke Schar mich scheide,
stell´ mich auf die rechte Seite!
Wird die Hölle ohne Schonung
den Verdammten zur Belohnung,
ruf´ mich zu der Sel´gen Wohnung!“
In den letzten zwei Strophen fasst der Dichter sein Gebet in tiefer Reue nochmals kurz zusammen und erinnert sich – wie am Anfang – an den Jüngsten Tag mit seinen gewaltigen Ereignissen (Gericht und Auferstehung), der auf die ganze Menschheit wartet.
„Schuldgebeugt zu Dir ich schreie,
tief zerknirscht in Herzensreue,
sel´ges Ende mir verleihe!
Tag der Tränen, Tag der Wehen,
da vom Grabe wird erstehen
zum Gericht der Mensch voll Sünden!“
Die allerletzte Strophe des „Dies irae“ ist vermutlich später erst angefügt worden, als man begann, dieses erschütternd ernste Gedicht in der Totenmesse beten und singen zu lassen. Galten die bisherigen Strophen den Lebenden, auf dass sie im Gedanken an den Ernst der letzten Dinge aufgerüttelt werden und ihre Sünden aufrichtig und tief bereuen, so gilt die allerletzte Strophe dem Verstorbenen, für den die Totenmesse gefeiert wird, und allen armen Seelen im Fegfeuer:
„Lass ihn (den Verstorbenen), Gott, Erbarmen finden!
Guter Jesus, Herrscher Du,
schenk den Toten ew´ge Ruh! Amen.“