Der moderne Mensch und Weihnachten
Wir meinen zunächst den modernen Menschen und das Weihnachtsfest, wie er es sieht und erlebt. Vielfach völlig losgelöst nicht bloß vom "Christus des Glaubens", sondern auch vom "historischen Jesus" und seiner Geburt; völlig innerweltlich und materialistisch. Wie schmerzlich das von manchen empfunden wird, kann an zwei Beispielen belegt werden: 1. Hermann Hesse, der von vielen auch heute noch geschätzte deutsche Dichter. Er schrieb einmal die bitteren Worte: "Weihnachten ist zu einem Giftmagazin aller bürgerlichen Sentimentalitäten und Verlogenheiten geworden, Anlass wilder Orgien für Industrie und Handel, großer Glanzartikel für Warenhäuser. Es riecht nach lackiertem Blech, nach Tannennadeln und Grammophon, nach übermüdeten heimlich fluchenden Austrägern und Postboten, nach verlogener Feierlichkeit in Bürgerzimmern unter aufgeputztem Baum, nach Zeitungsextrabeilagen und Annoncenbetrieb, kurz, nach tausend Dingen, die mir alle bitter verhaßt sind und die mir alle viel gleichgültiger und lächerlicher vorkämen, wenn sie nicht den Namen des Heilands und die Erinnerungen unserer zartesten Jahre so furchtbar missbrauchten".
2. Ein moderner, anonymer Dichter: "Sagtest du Weihnacht?/ Nenn's lieber Jahrmarkt!/ Das haben die Krämer, die Wechsler daraus gemacht./ Und auch der Arme,/ er hält nur den Hut hin,/ macht nur die Hand hohl/, aber sein Herz schielt wie der Blick oder schweigt.: Wir andern sind Prasser geworden insgesamt/ und meinen es gut — nur mit uns selber./ Besinnung? Wir bleiben nicht zu Hause/ und haben keine Zeit./ Wir müssen ja rasch nach Mallorca/ oder ans Kap der guten Hoffnung/ zu einer Safari/ zum Zeitvertreib./ — Und was singen wir zu Weihnacht?/ "Es lebe der Wohl—stand!"/ Dass die Engel einst Gloria sangen,/ ist nur eine Sage./ Und die Hirten am Feuer,/ die einen sind müde geworden und schläfrig./ Die andern zündeln und zündeln, und wenn die Welt in Brand steht,/ will es keiner gewesen sein./ — Und wer beugt noch vor dem Kind in der Krippe das Knie?/ Niemand!/ Nicht einmal die Kinder!/ Die sind launische Prinzen geworden,/ sie rechnen und berechnen das Fest/ und die Gabe/ und messen mit Pfund und Elle./ — Und Friede? Dieses Wort,/ Lüge der Lügen,/ schmeckt nach Essig und Galle./ Wer nicht ersticken will,/ spuckt es aus!/ — Wem leuchtet noch der Stern überm Stall?/ Nur dem Schaf, dem Ochs und dem Esel./ Wir aber, wir sind verstockt,/ sind verloren,/ wir Weisen, wir Toren,/ die Weihen, wie die Mohren./ Den Retter, das Kind in der Krippe,/ Wer sieht es noch bittend an?/ Wer bringt ihm noch Weihrauch und Myrrhe?/ Vom Golde wollen wir schweigen,/ das brauchen wir selber/ zum Tanz um das Goldene Kalb!"
Wahrlich, bedauernswert ist solches Feiern des Weihnachtsfestes von Menschen, auch von Christen, die es nur noch dem Namen, dem Taufschein nach sind; nicht mehr dem Glauben, dem wahren Christusglauben nach; den hat man längst vergessen oder über Bord geworfen in erschreckender Konsumversessenheit, wie sie verdichtet uns vor ein paar Jahren präsentiert wurde in dem Film "Das große Fressen": Vier Männer schließen sich (zu Weihnachten?) zu einer Fressorgie, die immer viehischer wurde, zusammen. Der erste fraß sich buchstäblich zu Tode. Aber das "große Fressen" ging ungerührt weiter, bis aus dem Vergnügen des Essens und des sich dazugesellenden Sex Ekel heraufstieg wie Kot aus dem Latrinenrohr. Da dämmerte es, dass man hier bei einem Todesfest beisammen war. Der Zweite verendete unter allgemeinem Gelächter in seinen Blähungen, der Dritte in der Agonie der Lust; der Vierte schließlich aß sich an der Mutterbrust (in Gestalt zweier mächtiger Puddingberge) zu Tode. Übrig blieb, die Frau, die als zufälliger Gast in diese Fressorgie hineingeraten war. Und wie dann der bestellte Nachschub an Wild und Geflügel und an Bergen von Delikatessen angefahren wurde, war keiner der vier Fresser mehr übrig. Schon an dieser knapp erzählten Fabel des Films geht die gleichnishafte Zuspitzung auf: Hier führt sich ein Leben, das — im wörtlichsten Sinn — nur aus Konsum besteht, selber ad absurdum.
Die innere Logik verkehrt das Vergnügen in Ekel und gebiert schließlich den Tod. In diesem Film wird eigentlich ganz exakt das Schriftwort bei Lk 17,26 gedeutet: "Wie es in den Tagen Noahs zuging, so wird es auch in den Tagen des Menschensohnes sein. Sie aßen, sie tranken, sie nahmen und gaben zur Ehe (zum sexuellen Genuss) bis zu dem Tag, da Noah in die Arche ging; da kam die Flut und vernichtete alle... Gerade so wird es sein an dem Tag, da der Menschensohn offenbar werden wird."
Ist solches Feiern des Weihnachtsfestes zu negativ gesehen? Leider nicht. Aber sehen wir weiter zu, wie moderne Menschen Weihnachten begehen und sehen, nicht als Fest, sondern als Geheimnis der göttlichen Offenbarung: "So sehr hat Gott (Vater) die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe."(Jo 3,16)
Sind nicht viel bedauernswerter als die konsumversessenen Menschen jene, die sich dem Weihnachtsgeheimnis gegenüber in den engen Kerker der menschlichen Ratio, der kleinwinzigen menschlichen Vernunft einsperren und das Weihnachtsgeheimnis, das Mysterium Incarnationis, wie die Kirche es auf Grund der göttlichen Offenbarung seit der apostolischen Zeit den Menschen vorlegt und in ihrer Liturgie nacherleben lässt, als Mythos, als Sage, als legendäre Ausmalung eines kaum greifbaren historischen Faktums abtun? Im Sturm der "Entmythologisierung", dem sich diese Mitchristen — auch Mitbrüder sind darunter — ausgesetzt haben, können sie ihres einstigen Glaubens an die wunderbare Wirklichkeit der Menschwerdung des Sohnes Gottes im jungfräulichen Schoß Mariens nicht mehr froh werden. Sie faseln nur noch vom Menschen Jesus, der ein Modell der Mitmenschlichkeit oder ein Sozialrevolutionär war und erst von Paulus und der nachfolgenden traditionellen Väter— und Schultheologie fälschlich divinisiert, vergöttlicht worden sei, nun aber endlich wieder humanisiert und von seinem Podest der Göttlichkeit heruntergeholt werden müsse in die "schlechte Gesellschaft“ in der er sich einst ja am liebsten bewegt habe.
Solche Mitbrüder und Theologen begeben sich selber mindestens in verdächtige Gesellschaft, auch wenn sich darin bedeutende Denker, Christen und Atheisten, befinden: Der Humanist G. Szczesny z.B., der in Jesus rührend ein menschliches "Genie des liebenden Verstehens“ sieht, das durch "ein grenzenloses Mitleid mit allem, was arm und bedrängt ist", geprägt war (Die Zukunft des Unglaubens S.51—54). Und der Philosoph Ernst Bloch, für den Jesus ein schlechthin guter Mensch war "mit einem eigenen Zug nach unten, zu den Armen und Verachteten, dabei keineswegs gönnerisch, und mit Aufruhr nach oben, unüberhörbar sind ja seine Peitschenhiebe gegen die Wechsler" (Das Prinzip Hoffnung III/1487). Und der Dichter Henry Miller, der in "Big Sur oder die Orangen des Hieronymus Bosch" den armen Menschen Jesus gezeichnet hat, der "ohne Gepäck" reiste und "nicht einmal eine Zahnbürste besaß, keine Möbelstücke, keine Wäsche, kein Taschentuch, keine Kennkarte, kein Bankbuch, keine Versicherungspolice, keinen akademischen Grad" (vgl. K. Marti, Jesus — der Bruder, in: Ev. Komm. 1970, S.272). Bis hin zum protestantischen Theologen Paul Tillich, für den Jesus nur der mit Gott ungebrochen geeinte Mensch in echter, irrtumsfähiger Menschlichkeit ist, mit der es nicht vereinbart werden könne, dass ihm Hoheitsattribute zugeschrieben werden (vgl. Syst. Theol. II/123): Jesus ist nicht selbst Gott, sondern lediglich der mit Gott restlos geeinte Mensch, der zugleich den Weg des Menschen in die Entfremdung von Gott mitgeht, um diesen einzuholen und heimzuholen zu Gott (a.a.O. II/163). Diese Sicht des Menschen Jesus führt dann die protestantische Theologin Dorothe Sölle radikal weiter, wenn sie den vorpaulinischen Christushymnus im Phil 2,5—11 so übersetzt: "Denn er (der Mensch Jesus), der bei Gott war, hielt es nicht für sein Privateigentum, bei Gott zu sein. Er verließ seine Heimat, verschenkte seine Vorrechte, wurde Sklave... Er übernahm freiwillig die Entfremdung. Daher hat Gott ihn endgültig beheimatet auf der Erde, hat ihm, der eine Nummer geworden war, einen Namen gegeben" (Atheistisch an Gott glauben S.25).
Das Menschsein Jesu ernst nehmen ist recht und notwendig. Und es gilt gerade am Weihnachtsgeheimnis auch die echte, wahre Menschheit und Mitmenschlichkeit Jesu in der Armut von Bethlehem zu sehen. Aber das kann doch nicht alles sein. Sonst könnte der Name Jesus durch den Namen eines x—beliebigen anderen in Armut und Not als Flüchtlingskind geborenen und groß gewordenen Palästinenser ausgetauscht werden. Das aber ist dann nicht mehr das Weihnachtsgeheimnis. Zum eigentlichen Weihnachtsgeheimnis aber gehört wesentlich die Gottheit des Kindes in der Krippe! Jesus Christus ist nicht nur wahrer Mensch, uns "in allem gleich, die Sünde allein ausgenommen" (vgl. Hebr 2,17), er ist auch wahrer Gott, wesensgleich dem Vater; er ist nicht nur ein Mensch in der Nähe Gottes, nicht nur ein mit Gott besonders geeinter Mensch, er ist der menschgewordene wesensgleiche Sohn Gottes, er ist Gott und Mensch zugleich. Das bezeugt im NT nicht erst Paulus, das bezeugen auch die vier Evangelisten. Und Jesus wird auch als Gott angebetet, und zwar nicht erst in der hellenistischen, sondern auch schon in der aramäisch sprechenden Urgemeinde, wie das Maranatha—Gebet von 1 Kor 16,22 zeigt. Und der auf Jesus in der hellenistischen Gemeinde angewandte Kyriostitel sagt ebenso seine Gottheit aus, weil in der LXX der alttestamentliche Gottesname mit Kyrios übersetzt wurde und weil zudem in den orientalisch—hellenistischen Religionen dieser Titel die Bedeutung von Gott hat (vgl. O. Cullmann, Die Christologie des NT, S.202–206). Warum liegt dem NT so viel an der Gottheit Jesu? Weil dann, wenn Jesus nicht Gott, sondern nur ein Mensch war, er uns nicht erlöst hat. Wäre Jesus nicht Gott, sondern nur ein Mensch – und wäre er auch ein mit Gott ungebrochen geeinter, ihn ungetrübt zu Wort bringender und offenbarender Mensch, dann hätte der Mensch wieder einmal – wie so oft in der Religionsgeschichte – versucht, sich durch einen Menschen zu erlösen. "Wäre Jesus nicht Gott, sondern nur ein Mensch, der mit Gott verbunden ist wie jeder Mensch, nur intensiver, dann wäre der Kanon im Kanon von der Heilstat Gottes in Christus ein Betrug" (H.G. Pöhlmann, Abriß der Dogmatik S.182). "Der Mensch, der hier leidet (in der Armut der Krippe von Bethlehem und in der Verlassenheit von Getsemane und Golgota) und dann am Kreuze stirbt, IST Gott. In der diamantenen Wirklichkeit und Gültigkeit dieses 'IST' liegt die rettende Heilskraft des Todes Jesu beschlossen" (P. Brunner, Pro ecclesia II/72) Die Erlösungstat Jesu ist in Frage gestellt, wenn seine Einheit mit Gott nicht als Wesenseinheit sondern nur als Erscheinungseinheit, als Offenbarungseinheit, als Willenseinheit, als Worteinheit begriffen wird. Seine Einheit mit Gott ist nicht nur graduell, sondern total verschieden von der Einheit der Menschen mit Gott. "Der totale Bruch dieser Einheit in der Sünde fordert diese totale Andersartigkeit seiner Einheit von der der anderen Menschen. Er könnte diesen Bruch nicht heilen, käme er nicht aus einer ganz anderen Einheit, nämlich aus der Wesenseinheit mit dem Vater.“ (H.G. Pöhlmann, a.a.O. S. 182).
Menschwerdung Gottes im vollen, wahren Sinn: Jesus Christus "perfectus Deus, perfectus homo", das ist die Bedeutung des „Incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria Virgine et homo factus“ das ist das Weihnachtsgeheimnis! Davor beugen wir in demütigem Glauben anbetend unsere Knie.
Zugegeben, wir sind manchmal in Gefahr, die Menschheit Jesu zu verkleinern, um seine Gottheit zu vergrößern, den Menschen klein zu machen, um Gott groß zu machen; wir vergessen bisweilen dabei, dass Gott sich klein machen wollte, um den Menschen groß zu machen. Das ist der Sinn des "Descendit de coelis" im Sinn des Pauluswortes im 2 Kor 8,9: "Ihr kennt ja die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und wisst, dass Er, obschon Er reich war, um euretwillen arm geworden ist, damit ihr durch seine Armut reich würdet!" Das gilt es zu beachten, um das Weihnachtsgeheimnis richtig zu erfassen. Um das Weihnachtsgeheimnis aber auch richtig zu erleben, braucht es immer zum Glauben dazu auch die Demut und die Liebe zu den Armen und Kleinen in wahrer Fraternisierung mit ihnen nach dem Beispiel Jesu. Vielleicht gelingt es uns dann wieder, den modernen Menschen zum richtigen Feiern des Weihnachtsfestes zu bringen. Wer zu Weihnachten nur prasst und nicht mit den Armen teilt, lebt an Weihnachten vorbei. Er, der Sohn Gottes, hat sich wortwörtlich mit uns allen, vor allem aber mit den Armen und Notleidenden fraternisiert und ist in allem seinen Brüdern gleich geworden, "um ein barmherziger und getreuer Hoherpriester für sie bei Gott zu sein, um die Sünden des Volkes zu sühnen. Und weil Er selbst gelitten hat und dadurch versucht worden ist, vermag Er denen zu helfen, die versucht werden"(Hebr 2,17).