Die selige Juliana von Norwich (+ nach 1413)

Über das Leben dieser englischen Mystikerin, die von 1342 bis nach 1413 lebte und so eine Zeitgenossin der hl. Caterina von Siena war, ist fast nur dies bekannt, dass sie Reklusin an der dem hl. Julian geweihten Kirche in der Stadt Norwich war und als solche nicht bloß viel betete und betrachtete, sondern auch vielen Menschen eine gute Ratgeberin war. ¹⁾

Nach ihrer eigenen Mitteilung empfing sie im Mai 1373 im 31. Lebensjahr 16 übernatürliche ekstatische Offenbarungen über das Leiden Christi und über die heiligste Dreifaltigkeit. 20 Jahre später hat sie diese Offenbarungen über die göttliche Liebe („The Sixteen Revelations of Divine Love“) niedergeschrieben oder richtiger niederschreiben lassen, etwa durch einen ihr Vertrauen besitzenden Priester, weil sie selbst bekennt, nur „ein ganz einfaches Geschöpf zu sein, das die Buchstaben nicht kennt“.

Von diesen „Offenbarungen“ der seligen Juliana von Norwich existiert eine längere und eine kürzere Fassung, wobei man heute der Überzeugung ist, dass die kürzere Fassung die ältere darstellt. Während die länger Fassung bereits 1670 durch den Benediktiner Serenus Cressy aus ein Pariser Handschrift publiziert wurde, erlebte die kürzere Fassung erst 1911 ihre erste Drucklegung durch D. Harford aus einer Handschrift des „British Museum“ und die letzte Neuauflage 1958 durch A.M. Reynolds. ²⁾

Warum wird nun in diesem Buch über große Herz-Jesu-Verehrer auf diese weithin unbekannte englische Mystikerin hingewiesen? Weil ich in einer Ekstase sehr viel vom Herrn selbst über das bittere Leiden Christi mitgeteilt wurde, wobei der Herr auch ausdrücklich über sein durchbohrtes Herz zu ihr sprach.

Juliana war schwer krank gewesen, sie selbst und ihre Umgebung glaubten, es stünde ihr Sterben unmittelbar bevor. Sie hatte eben die Krankensalbung wirklich als „Letzte Ölung“ empfangen, da wurde sie plötzlich geheilt. Nun begann die Reihe der Offenbarungen mit den Visionen der Dornenkrönung Jesu. Das war um 4 Uhr morgens am 8. Mai (oder am 13. Mai 1373 nach der Pariser Handschrift). 15 Visionen folgten hintereinander und dauerten „bis zum Mittag desselben Tages oder noch länger“. Die 16. Offenbarung geschah in der folgenden Nacht, „und diese sechzehnte war das Endergebnis und die Bestätigung der fünfzehn vorausgegangen“, sagt die selige Juliana in der längeren Fassung (Kapitel 66).

Das einleitende Kapitel der längeren Fassung bringt eine kurze Übersicht über den Inhalt der einzelnen Offenbarungen. „Die zehnte Offenbarung sagt, wie Jesus seine Liebe dadurch zeigt, dass sein heiligstes Herz sogar zerspalten wurde.“ ³⁾

Sehen wir nun zu, wie die selige Juliana von Norwich die ekstatische Schau des Leidens Jesu geschildert hat: „So erkor ich Jesus als meinen Himmel, Ihn, den ich damals nur in Schmerzen sah. Mir gefiel kein anderer Himmel als Jesus, der meine Glückseligkeit sein wird, wenn ich dort bin. Und das war stets mein Trost, dass ich Jesus als meinen Himmel erkoren hatte während dieser ganzen Zeit der Passion und des Schmerzes, und es war mir eine Lehre, dass ich stets so tun müsse und ihn allein als meinen Himmel erwählen müsse in Wohl und Wehe. So sah ich meinen Herrn Jesus lange Zeit hindurch sich quälen, denn das Eins-Sein mit der Gottheit und die Liebe gab seiner Menschheit die Kraft, mehr zu leiden, als sonst je ein Mensch würde leiden können. Ich meine nicht nur die körperlichen Schmerzen, die Menschen je erleiden können, sondern Er ertrug größere Seelenqualen als alle anderen Menschen, die je gelebt haben vom Anfang der Welt bis zum jüngsten Tag. Keine Zunge kann es ausdrücken, kein Herz je das Leiden ganz ausdenken, das unser Erlöser für uns ertrug, wobei gerade an die Würde dieses höchsten glorreichen Königs bei seiner schmachvollen Beschimpfung und seinem qualvollen Tod gedacht werden muss. Er, der Höchste, der Würdigste, wird völlig entblößt und aufs äußerste gedemütigt. Doch übertrifft die Liebe, die Ihn das alles ertragen ließ, seine ganze Qual um so viel mehr, wie der Himmel höher ist als die Erde. Die Passion war ja eine Tat, die in der Zeit geschah durch die Kraft der Liebe, die Liebe selbst aber war ohne Anfang, und sie ist und wird ewig sein ohne Ende.

Während ich immer noch dasselbe Kreuz betrachtete, wandelte sich plötzlich sein Antlitz in Seligkeit. Dieser Wandel seines Ausdrucks wandelte auch den meinen, und ich wurde so groß und fröhlich, wie es nur möglich war. Und fröhlich gab mir der Herr zu bedenken: „Wo ist jetzt noch ein Rest deines Kummers und deines Leidens?“ Dann sprach unser Herr und fragte mich: „Bist du ganz froh darüber, dass ich für dich gelitten habe?“ Und ich darauf: „Hab‘ großen Dank, gute Herr, du sollst gepriesen sein.“ „Wenn du zufrieden bist“, sagte jetzt unser Herr, „Dann bin Ich es auch. Es ist für Mich Freude, Glückseligkeit und ewige Genugtuung, dass Ich einmal die Passion für dich erlitten habe, und wenn Ich noch mehr hätte leiden könne, so hätte Ich noch mehr gelitten.“

In diesen Worten: „Wenn Ich noch mehr hätte leiden können, so hätte Ich noch mehr gelitten“, sah ich wahrhaftig, dass, wenn Er so oft für jede einzelne Seele sterben könnte, die gerettet werden wird, wie Er einmal für uns alle starb, Ihn die Liebe niemals ruhen lassen würde, bis Er das erfüllt hätte. Und wenn das geschehen wäre, so würde Er es aus Liebe für nichts achten, denn all da erscheint Ihm nur gering im Lichte seiner Liebe.

Ganz fröhlich und glücklich blickte nun Unser Herr ins eine Seitenwunde und sah und sprach: „Siehe, wie Ich dich liebte!“ – als habe Er sagen wollen: „Mein Kind, da du meine Gottheit nicht erblicken kannst, siehe hier, wie Ich einwilligte, dass meine Seite geöffnet und mein Herz zerspalten wurde, so dass alles Blut und Wasser, was darin war, herausfloss. Und das schenkt Mir Freude, und so soll es auch dir geschehen.“ Das zeigte mir Unser Herr, um uns glücklich und fröhlich zu machen.

Mit der gleichen Freude blickte Er dann noch an seiner rechten Seite hinab und zeigte mir, wo Unsere Liebe Frau während seiner Passion gestanden war. Er fragte: „Willst du sie sehen?“ Und ich antwortete und sprach: „Jawohl, guter Herr, hab‘ großen Dank, sofern es dein Wille ist!“

Wie ich Unsere Liebe Frau früher klein und einfach gesehen hatte, so zeigte Er mir sie jetzt hocherhaben und in der Glorie und Ihm wohlgefällig über allen Geschöpfen. Nach seinem Willen soll von allen Menschen gewusst werden, dass, wer in Ihm seine Freude findet, sich auch in ihr erfreuen soll und in dem Glück, das Er in ihr und sie in Ihm findet. Es schien mir, als ob jenes Wort: „Willst du sie sehen?“ mir die größte Freude brächte, die Er mir durch diese geistliche Schau von ihr überhaupt hätte machen können. Unser Herr hat mir nämlich keine andere spezielle Offenbarung gewährt als die Unserer Lieben Frau, der heiligen Maria, sie aber zeigte Er mir dreimal: das erste im Augenblick, als sie Ihn empfing, das zweite Mal, als sie in ihrem Schmerz unter dem Kreuze stand und das dritte Mal, so wie sie jetzt ist, in Glück, Anbetung und Freude.“ ⁴⁾

Wenn wir uns ein Urteil über die Leidensmystik der seligen Juliana von Norwich erlauben, so können wir nichts Besseres tun, als uns dem Urteil anzuschließen, das David Knowles in seinem Buch „The English Mystical tradition“ (in der deutschen Übersetzung: „Englische Mystik“) über die „Offenbarungen“ der seligen Juliana von Norwich getroffen hat: „Nur wer das ganze Buch liest, wird wirklich spüren, wie tief und doch einfach Juliana die Glaubensgeheimnisse sieht: die Heiligste Dreifaltigkeit, die Vereinigung des ewigen Wortes Gottes, des Logos, mit der menschlichen Natur, die Erbsünde und die Erlösung. Wir müssen tatsächlich staunen über die tiefen Dinge, die den Geist dieser Einsiedlerin erfüllten und über die Verstandeskraft, mit der sie sich um deren Erklärung bemühte... Jeder Leser aber wird vor allem von dem Optimismus beeindruckt sein, der durch das ganze Werk geht, obwohl Juliana sich über die Schwachheit, das Leiden und die Sünde völlig im Klaren ist, und obwohl sie an der kirchlichen Lehre von der ewigen Verdammnis klar festhält. Die Worte, mit denen sie ihr Buch („Eine Offenbarung der göttlichen Liebe“) beschließt, sind so vielsagend und geben eigentlich den ganzen Sinn der Herz-Jesu-Verehrung wieder: „Willst du wissen, aus welcher Absicht unser Herr dies alles (in seiner Passion) tat? Wisse es wohl: Liebe war seine Absicht! Wer zeigte sie dir? Liebe. Was zeigte er dir? Liebe. Warum zeigt er sie dir? Aus Liebe. „...Juliana von Norwich ist nach Geist und Herz eine der bemerkenswertesten – wenn nicht die bemerkenswerteste – Engländerin ihrer Zeit. Sie kann sich mit den tiefsten Geheimnissen der Theologie und des Lebens auseinandersetzen...Zugleich erweist sie sich als hochherzige, liebende Frau von außerordentlich feinem Gefühl, das sie in einer Sprache auszudrücken vermag, die unmittelbar zu Herzen geht...“ ⁵⁾

_{1) vgl. A. Schmitt, Juliana von Norwich, in: Lexikon für Theologie und kirche 5/1202; J. Steophan, Giuliana di Norwich, in: Bibliotheca Sanctorum VO., S. I/1177-1181; D. Knowles, Englische Mystik, Düsseldorf 1967, S. 122 – 138}

_{2) Sr. A.M. Reynolds CP, Juliana von Norwich. Eine Offenbarung der göttlichen Liebe. Kurze Fassung der 16 Offenbarungen der göttlichen Liebe, Freiburg/Br. 1959}

_{3) vgl. Sr. A.M. Reynolds, a. a .O., S. 30}

_{4) vgl. Sr. A.M. Reynolds, a .a .O, S. 95-101}

_{5) vgl. D.Knowles, a .a .O., S. 131-137}